Ein Hollerbusch war der „Medizinschrank“ des Bauern

Haus und Stall bewahrte der Strauch vor Blitz und bösen Geistern

Der bekannte bayerische Volksarzt Max Höfler bezeichnete den heute noch auf dem Land weit verbreiteten Holunderbusch einst als „lebendige Hausapotheke des Bauern“. Hippokrates nannte den „Holder“ oder „Flieder“ bereits 490 v. Chr. „einen bäuerlichen Medizinschrank“. In Mittel- und Ostdeutschland heißt der bis zu 20  Jahre alt werdende Strauch Holunder, im Norden Flieder, in Alpenländern wie auch im Allgäuer Voralpengebiet „Holder“ oder „Holle“.

Der Holunder gilt noch heute wegen seiner vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten als bedeutsamste Pflanze der volkstümlichen Heilkunde. Die verbreitete Volksmedizin „ist ein Begriff für alle im Volk lebenden Anschauungen von Krankheit und der dagegen anzuwendenden Heilmethoden“, wie es Wissenschaftler formulieren.

Lebens- und Hausbaum

Kein Bauer verzichtete über Jahrhunderte hinweg darauf, Haus, Hof und Stall mit Holunderbüschen zu bepflanzen, sollte doch der „hollunder vor die stallthür gepflanzt, das vieh vor zauberei bewahren“. In unserer Zeit lehnen sich die Sträucher vor allem an Feldscheunen an, sind aber auch an Feldwegen, Gedenksteinen, Kruzifixen und Bildstöcken zu finden.

Sambucus nigra heißt der sagenumwobene schwarze Holunder botanisch nach dem in den unreifen Beeren enthaltenen Sambunigrin, das Blausäure abspaltet und erst durch Erhitzen der tief dunklen Beeren an den Trugdolden zerstört wird. „Jedermann hold und wohlgesonnen“, wurde das Strauchgehölz dank seiner „Krafft und Wirckung“ bereits in vorchristlicher Zeit als Lebens- und Hausbaum im heutigen Mitteleuropa hochverehrt und fehlte noch vor 100 Jahren als lebende Hausapotheke weder an Scheunen und Ställen noch neben dem Bauerngehöft oder an Weggabelungen.

Einige Jahrzehnte hindurch geriet der zur Sonnenwende, am Johannistag im Juni, in voller Blüte stehende, fruchtbare Strauch zu unrecht in Vergessenheit, gewann aber in jüngster Zeit erneut zunehmend an Bedeutung. Man besann sich darauf, dass in Blättern, Blüten, Rinde, Wurzeln und erst recht den Beeren viele wertvolle, heilkräftige Stoffe enthalten sind, die bereits Pharmakologen und Kräuterkundige im ersten nachchristlichen Jahrhundert anzuwenden wussten.

Vor allem die Trugdolden mit ihren tiefschwarzen Beeren, die bei sonnigem, trockenem Wetter geerntet werden sollten, enthalten sehr viel Vitamin C,  verschiedene Mineralien wie Kalium sowie Phosphor und Kalzium als Spurenelemente. Aminosäuren und ätherische Öle steigern noch den Wert dieses Geißblattgewächses. Erstaunlich, was moderne Analysemethoden an den Tag brachten: in fast allen Pflanzenteilen des Holunders „sind wirksame Inhaltsstoffe verborgen“, wie jedermann beispielsweise im Buch „Gesunder Holunder“ der Heilpraktikerin Anita Heßmann-Kosaris  nachlesen kann. Zwar ersparte der Holunder am Haus dem Landwirt oft den Arzt, doch sollte man sich auf jeden Fall beim Apotheker oder Mediziner zuvor Rat holen, um diese „Naturapotheke“ wirksam nutzen zu können.

Älteste Nahrungs- und Heilpflanze

Der auf dem Land oft wuchernde Holderbusch hilft vielseitig: ein Tee aus getrockneten Blüten wird angewandt bei Fieber, Halsweh, Erkältungen, Bronchitis, Akne und Blasenentzündungen; er wirkt zugleich blutreinigend, entwässernd, entschlackend, schweißtreibend und schmerzlindernd. Mus und Saft der Holunderbeeren sind ein natürliches Beruhigungsmittel. Ein Löffel Trockenbeeren – mit heißem Wasser überbrüht und gut durchgezogen – tut gut bei Infektionen der Mundhöhle. Holunderbeersaft stärkt das Immunsystem und vermag Arteriosklerose zu lindern. Der Aufguss aus Blütendolden findet Anwendung für Umschläge bei Prellungen. Auch die gegen Neuralgien wirksame sagenumwobene Rinde des Strauchgehölzes ist gleich mehrfach wirksam: stammaufwärts geschält, zerkleinert und getrocknet soll sie gewolltes Erbrechen bei Vergiftungen hervorrufen, stammabwärts gerebbelt  und verarbeitet,  kann sie abführend wirken.

Anspruchslos, wild wachsend und in dicken Scheindolden blühend und unzählige Beeren als Früchte tragend, selbst Steinhügel und Schuttberge verschönernd und sich als dichter Busch rasch vermehrend, gilt Holunder als älteste wilde Nahrungs- und Heilpflanze schon neben steinzeitlichen Pfahlbauten. Beweise dafür lieferten bei Ausgrabungen gefundene Holunderbeerkerne. Holderküchle, Fliederbeersaft und Hollerkompott sind schmackhafte, beliebte Speisen aus Blüten und Früchten. Früher zogen die Familien mehrmals im Jahr zum Hollerstrauch, um im April die jungen Blätter, im Mai die schneeweißen Blüten und im August die dunklen Beeren zu ernten.

Blühende Rispen werden in Süddeutschland gern – dazu am Stiel gehalten -  in Eierkuchenteig ausgebacken, mit Puderzucker bestreut und gegessen. Kaum sind die Beeren richtig reif, versetzt man sie mit Zucker, kocht sie im Entsafter auf und füllt die tiefdunkle Flüssigkeit in Flaschen ab als ein vitaminreicher Trunk für kalte Wintertage. Zur Erntezeit werden Fruchtsuppen aus Holunder, aufgekocht zusammen mit Äpfeln, Ingwer, zur gesunden Delikatesse, eingedünstetes Holundermus ergibt einen vortrefflichen Brotaufstrich und eine schmackhafte Füllung für Pfannkuchen. In Essig eingelegte Blütendolden verleihen diesem ein würziges Aroma; Holunderblüten in Mandelöl ergeben ein aromatisches Einreibemittel, sind ein wertvoller Badezusatz und Grundlage für kosmetische Cremes. Aus dicken, markigen Holunderästen schnitzen die Buben im Herbst gern Pfeifchen und Flöten.

Der Hollerbusch als Zugang zum Elfenschatz

Bei den alten Germanen hatten Elfen vermeintlich ihren Sitz im Holderbusch.Unter dem Holunderbaum brachte man der Göttin Holla Opfer. Die Römer bezeichneten Holunderbeersaft, mit dem sie ihrem Wein die dunkle Färbung gaben, als „göttliches Blut“. In Sagen und Märchen spielte der Holderbusch immer eine mythische Rolle: „Holde“ – den Menschen mögende Gestalten – versteckten sich angeblich darin; die Holdermutter zeigte sich in Gestalt der Frau Holle und schüttelt alten Überlieferungen zufolge statt der Federkissen die weißen Holunderblüten; Andersen schrieb das Märchen vom „Fliedermütterchen“. Gnome, Schrate, Zwerge und Kobolde bewohnten im mittelalterlichen Volksglauben den Holunderstrauch, unter ihm sollte gar der Schlüssel zum Feenschloss, zur „Elfenkönigsburg“ oder zu einem Schatz verborgen sein. Holunder konnte auch vor Blitz und bösen Geistern schützen. Unter dem Strauch singen Kinder heute noch besonders in Süddeutschland den Vers: „Ringel, Ringel, Reihe, wir sind der Kinder dreie, wir sitzen unterm Hollerbusch und machen alle husch, husch, husch“.

Von altem Brauchtum weiß ein Allgäuer Heimatpfleger zu berichten: „Bei abnehmendem Mond lief einst mancher Fieberkranker zu einem auf der Landmarke stehenden Hollerbusch, umwickelte ihn mit Bastfäden und reimte: ‚Guten Morgen, Herr Flieder, ich bring dir mein Fieber. Ich bind dich an, nun geh in Gottes Namen davon’. Viele Menschen sollen auf diese Weise Linderung erfahren haben“.

Ob Zauberkräfte, Schutz vor Behexung, magische Wirksamkeit der Hexenbesen aus Hollerreisig, glückbringende Holunderruten und was sich sonst noch im Volksglauben um dem Holunderstrauch rankte, all das beweist nur, welche Ausstrahlung und Bedeutung der beliebte Holderstrauch schon immer für den Menschen besaß.

 

 
Karl-Heinz Wiedner/410

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